Sich gehen lassen … sich selbst vergessen, so beschreibt Erika Seywald Erfahrungen im Entstehungsprozess ihrer als landschaftlich betitelten, großformatigen Papierarbeiten.1
Sich gehen lassen – eine schöne Formel auch für den Zugang der Betrachter/innen zu gemalter Landschaft ganz allgemein und zu den hier versammelten Natur-Szenerien Erika Seywalds im Besonderen.
Mit jedem Bild von Natur, jedem Naturausschnitt, mit der Darstellung eines Landschaftsraumes sind Barrieren überwunden. Der Blick ist grundsätzlich frei, reale Zugangsbeschränkungen, Besitzgrenzen, Zeitlimits sind aufgehoben. Bilder zeigen uns irdisches Terrain so, wie es grundsätzlich allen oder aber niemandem gehört. Im Bild das Ideal einer Natur, die wir uns mit allen teilen – ohne großes Pathos. Dies vielleicht als eine Möglichkeit, die bis heute ungebrochene Faszination am Naturbild überhaupt zu erklären.
Es sind solche Einblicke in die fortwährend attraktive große Erzählung von Natur in den uns vertrauten Erscheinungsformen, die Erika Seywald bietet. Variationen naturhafter Schauplätze entstehen durch lockere Andeutungen, die der erfahrene Blick schnell zu vervollständigen bereit ist. Auch scheint noch Platz für Akteure in den Szenarien, wie auf Bühnen für Tragisches, Skurriles, Komisches. Viel Freiheit also für die Stimmungslagen der Betrachter/innen.
Malerei: Der Landschafts-Bildraum, den wir bei Erika Seywald vorfinden, wird uns zum visuellen Bewegungsraum, zum Farbraum für kleine und große Sprünge, zum Assoziationsraum, von der Malerin farbgestimmt. Zum Beispiel eine ganze Serie traumhaft traumatisierender Rot-Räume, komplementär also zum Grün, wie es der Erwartung eher entspräche. Ein suggestiv- farbiger Ton – oft eben rot, aber auch dunkelblau, blaugrün, ein Braunrot, Violett oder ein grünes Weiß – bestimmt jeweils die Atmosphäre einer solchen Landschaft, der sogleich vielfach durchbrochen wird, kontrastiert wird von aufleuchtenden, durchscheinenden und aufgesetzten Farbakzenten. Der zugrunde liegenden Naturszenerie (übertragen aus einer Fotografie) ist damit eine farbliche Un-Natürlichkeit auferlegt, als ein Ausdruck der subjektiven Farbfreiheiten der Malerin.
Die Realität Naturlandschaft selbst, auf die sich diese Bilder beziehen, ist inzwischen ein kleiner werdender Ausschnitt aus unserer komplexen Lebenswelt, ein Extrakt Natur. Reduziert mitunter auf eine Dosis Natur zur Rekreation sozusagen. Das mag mit ein Grund sein, warum wir so bereitwillig reagieren auf die in den Bildern angebotenen Landschaftssignale, wie Dickicht, Waldwege, Baumbestände, Lichtungen, Wasserflächen, Vegetationsformen. Und wir vernehmen Laubrascheln, Waldgeräusche, spüren Wasser, atmen Naturgerüche!
Der Abstand zur realen Umgebung, zum konkreten Lebensraum ist in diesen landschaftlichen Bildern Erika Seywalds geringer als in ihren oft großformatigen Figurenkompositionen. Dort ist Farbe ohne den Einfluss der Schwerkraft, ohne ein Oben oder Unten zu definieren, ins Bild gesetzt, die Körper so in Schwebe belassen. Pflanzenwuchsformen hingegen, Waldabschnitte, Bäume, Wiesen, Bachläufe, Gehölz, Gebüsch signalisieren Realitätsbezug. Baumstämme, Äste, Zweige deuten auf konkrete Lebens- und Wachstumsbedingungen und unser damit verbundenes Zeitbewusstsein. Die Farben weisen auf Veränderungen im Licht, in der Temperatur, im Verlauf der Jahreszeiten.
Farbflüge sind also jetzt durch Schwerkräfte diszipliniert. Auf den ersten Eindruck eine Ernüchterung, wie eine Unterwerfung der freien Farbwelt unter die einschränkenden Regeln der Realität. Bei näherem Hinsehen aber sind im Untergrund, der Bildebene zugehörig, solche freien Farbfelder als helle, von den Motiven unabhängige bunte Farbflüsse zu erkennen, da Formen, Umrisse auch durch Auslassungen, sozusagen geformte Lücken, gebildet sind. Darüber: gebundene Farbe zur Darstellung natürlicher Ablagerungen, Blattformen, Pflanzenbüschel, Zweige, Stämme. Die Freiheit liegt hier in der subjektiven Farb-Gestimmtheit, in einem Farbspiel in tonaler Freizügigkeit.
Monotypien: Erika Seywald hat in dieser Serie von Monotypien auf Transparentpapier im großzügigen Blattformat (ca. 120 x 100 cm) den Malgrund weggelassen. Es reagiert nur das Gegenständliche, das Natur-Motiv mit dem transparenten Bildträger. Schwarzer Druck, durch Grafitzeichnungen auf den Rückseiten in den Grauwerten austariert. Ein starkes Blatt-Bewusstsein ist erkennbar: Das Blatt trägt das Bild und ist davon gezeichnet, es wird rau – gewissermaßen von Natur aus – wellig und buckelig, den Bildmotiven entsprechend. Motive aus versprengten Partikeln gebildet, auf durchscheinenden Folien.
Unterschiedliche Prinzipien der Farbgebung und Formfindung also in den Landschaften Erika Seywalds, zuweilen im spielerischen Wechsel auftretend, in mehrfacher Überlagerung, mitunter als unentschiedenes Kräfteringen, einander ausschließend oder gewähren lassend. Bezeichnende Bilder für das grundsätzlich Metamorphe am Leben. Erika Seywald legt mit dieser Werkgruppe sozusagen ihre subjektiv gestalteten Seiten ins Buch der Natur.2
Naturerfassung, Naturinterpretation in allen Facetten hat nach wie vor bedeutenden Anteil an unserem immer rasanter anwachsenden Imaginären Museum.3
Dr. phil. Blanka Schmidt-Felber, 2015
1. Statement Erika Seywald, in: zeichnen zeichnen. Publikation zur Ausstellung, Künstlerhaus Wien 2013, S. 173
2. Das Buch der Natur bezieht sich hier konkret auf die ca. 1350 verfasste Enzyklopädie des Konrad von Megenberg, einer Naturgeschichte. Siehe //de.m.wikipedia.org/wiki/Das_Buch_der_Natur//
3. Das imaginäre Museum war eine Vorstellung des französischen Autors und Kulturpolitikers André Malraux aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Siehe: Walter Grasskamp, André Malraux und das imaginäre Museum, München 2014
In ihren neuen Arbeiten zeigt Erika Seywald archaisch anmutende Wesen wie lebende Fossile aus einer vergangenen Welt, wenige Zentimeter große Tiere mit eigentümlichem Äußeren, die in kaum wahrnehmbarer Bewegung in einem Äther zu schweben scheinen.
In der ihr eigenen Bildsprache gestaltet sie fremdartig anmutende Wesen, die in einer urtümlichen Weise ausgebildet sind, wie Erscheinungen aus dem Urgrund des Lebens, verwunderliche Formen, Hybride, die sich in den frühen Stadien des Lebens entwickelt haben und nur aus wenigen Zellen bestehen.
Ähnliche Wesen sind aus der Tiefsee bekannt, Tiere mit durch Lichtmangel entstandenen großen Augen, Quallen aus gelartigem Gewebe, die mit speziellen Leuchtorganen ausgestattet sind und in denen sich Röhren verzweigen, mit Tentakeln versehene Körper, lebende Fossile aus einer vergangenen Welt. An den dünnen, durchsichtigen Membranen beugt sich das Licht, die Farben des Regenbogens spiegelnd. Irisierende Farben, polarisiertes Licht und Interferenzmuster begleiten sie.
Verwandt scheinen diese Wesen auch mit den fossilen Zeugen aus dem Kambrium zu sein, die während der Explosion des Lebens in der Frühzeit der mehrzelligen Arten entstanden sind, einfache Geschöpfe aus wenigen Zellen, die Symmetrien ausbilden.
So seltsam, wie die Gebilde erscheinen, so sind auch die Namen dieser Tiere an Fantasien gekoppelt. Sie heißen Hallucigenia, Wiwaxia oder Opabinia und waren nur für eine in der Erdgeschichte relativ kurze Zeit zugegen.
In ihren Gedanken formt Erika Seywald auch neue, aus einfachen Zellmodellen gebildete Gestalten ähnlich wie in der biologischen Entwicklung. Sie versucht, in die Evolution einzugreifen und Wesen darzustellen, wie sie auch hätten entstehen können, mit Eigenschaften, die der Morphologie ihres Bewusstseins entsprungen sind. Die Erscheinungen strahlen Ruhe aus und sind von einer Zartheit, wie sie für unser Empfinden in weite Entfernung gerückt ist.
Vielleicht ist die Evolution des Lebens im Bewusstsein der Menschen soweit zugegen, dass man auch an ihr selbst teilhaben kann, um die Fähigkeit zu entfalten, die Erscheinungen der Entwicklungsgeschichte aus dem allgemeinen Gedächtnis zu formen und nachzuvollziehen.
Welche Wege die Natur gegangen ist und welche sie noch hätte gehen können, gehört wohl zu den Fragen, die man sich stellt, wenn man die Ordnung der Dinge in ihrem allgemeinen Wandel zu ergründen beginnt.
Einige Antworten darauf gibt es in den Bildern von Erika Seywald.
Dietmar Prem, 2015
Malerei von Erika Seywald
Ausstellung Krakau Eröffnung am 28. September 2012
In ihrer Malerei – Eitempera und Öl – mischt Erika Seywald Mineralisches mit Atmosphärischem. Die Elemente Erde und Luft scheinen sich zu vermengen. In Farbstürmen aufgewirbelt findet sich das Irdische in den Himmeln und der Himmel bald zerrieben auf den Feldern. Figurenbeziehungen verfestigen sich zu Universen, um sich gleich darauf – vor unseren Augen – wieder aufzulösen, zu verflüchtigen, zu entschwinden.
Man könnte auch sagen: Materie verliert Gewicht und gewinnt Farbe in den Bildern Erika Seywalds. Sprühend vor Farbenergie ist ihre reiche Palette. Ihre Farbskala umfasst an die 300 Mischtöne, aus denen sich durch Überlagerungen, Verdünnungen, Materialwechsel und dergleichen schier unendlich viele Farbnuancen ergeben. Für alle denkbaren Gefühlstönungen gibt es da die entsprechenden Farben. Areale in heller Stimmung wie Bereiche in dunkler Färbung. Farbschattierungen, manchmal stufenlos, manchmal kontrastierend. Versprengte Farbgebiete, Farbschwaden, die durch die Bilder ziehen. Farbsprudel, Strudel, Gischten, Spritzer, Farbgerinnsel…
Die unbekümmert ganz profane Schwerelosigkeit, wie sie in ihren Bildern vorherrscht, lässt uns erkennen, dass wir es bei ihren Figurenkompositionen mit Fantasiekonstellationen zu tun haben. Gewichtslose Berge, Kinder in Schwebe, leichtfüßige Pferde: Menschen, Tiere, Pflanzen, Geländeformationen in der Bildern Erika Seywalds finden sich in einem gemeinsamen Raum, sind verschlungen, verzahnt, verflochten. Ihre Bereiche, teilweise transparent, überlagern sich, verbinden sich zu multivalenten Erscheinungen. So entspringen Blüten wie Gewässer und Körper verfestigen sich zu Bergen oder verwandeln sich in Wellen. Ein Farb-Schwall gerinnt zu Stein, um sich gleich angrenzend in Distanz aufzulösen, als Zwischenraum aufzuleuchten. Verschluss und Öffnung, Gerinnsel und Abfluss, Masse und Umraum, Anstoß und Reaktion, Auslöser und Wirkung sind auf diese Art oft ununterscheidbar.
In imaginären Figurengruppen umschreibt Erika Seywald hartnäckig, unermüdlich nicht mehr und nicht weniger als Verbindungen, Verhältnisse, Beziehungen der Menschen zur Welt, mit Bildern symbiotischen Verschmelzens ebenso wie mit Ausmalungen traumatisierender Umklammerung. Ihre „Personen” sind dabei eher solche, die schauen, als solche, die sich betätigen in einem aktiven Sinne. Sie schweben, lassen sich treiben, lassen sich tragen. Sie unterwerfen sich den Farbströmen, lassen sich von den Farben bewegen. Die Konturen der Körper – versetzt in Bewegung – suchen Verbindungen, geraten dabei nicht selten in Farbturbulenzen.
Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy – in seinem im Jahr 2000 verfassten Buch mit dem Titel „Corpus” – definiert ein „Zwischen-den-Körpern” als „Statt-Haben von Bildern”. Er fährt fort: „Die Bilder sind kein Anschein, noch weniger Phantome oder Phantasmen. Auf diese Art werden die Körper untereinander dargeboten, es ist das in die Welt setzen, das an den Rand setzen, das Rühmen der Grenze und des Zerberstens. Ein Körper ist ein Bild”, so Jean-Luc Nancy weiter, „das anderen Körpern dargeboten wird, ein ganzer Corpus von Bildern, die von Körper zu Körper gespannt werden.”
In der Malerei Erika Seywalds tauchen Körper meist fragmentarisch, oft unvermutet auf, vielleicht gerade noch als solche erkennbar, versteckt, verborgen unter Farbmänteln, geschützt und getarnt. Es sind zuallererst die Gesichter, die unsere Aufmerksamkeit fordern. Wir finden aufgehende und untergehende Gesichter. Gesichter, die sich scheinbar gerade formieren und Gesichter, wie sie sich verlieren. Gesichtsfelder ausgebreitet, zerfließend oder gefasst, konzentriert. Weder die individuelle Physiognomie noch ein momentaner, ablesbarer Gefühlsausdruck sind thematisiert. Gesichter tun sich auf als farbige Areale, ziehen andere Farbgemenge an, schließen sich zusammen mit entfernten Farbkörpern. Köpfe und Körper suchen sich Verbindungen, zerfließende Selbstbilder finden sich neue Körperverbündete. Und wer sich auf die Suche begibt, entdeckt immer noch ein Gesicht – dahinter, dazwischen, darüber – noch eine Gestalt, noch ein rätselhaftes Wesen.
Beziehungs- und Erinnerungsgeflechte kommen auch auf symbolischer Ebene zur Darstellung. Malerei fordert uns auf, auch einmal die Bildfläche in ihrer Zweidimensionalität zu erfassen, zuerst einfach schauen, was da ist. Offen ausgelegt sind die Bildfelder, die große Vielfalt der Farbbeziehungen ist vor uns ausgebreitet. In der Fläche finden wir dabei mannigfache Symbole der Begegnung. Farben treffen aufeinander an konkreten Punkten und Linien. Bei genauer Beobachtung lassen sich klare Grenzen und verbindende Nähte unterscheiden, Konturen, die sich verzahnen, Kristalle als Barrieren. Eindrücke, Gerinnungen, Verflüssigungen. Es lohnt auch ein Blick auf die unterschiedlichen Binnenstrukturen der Farbfelder. Da gibt es porös wirkende, sandig durchsetzte Farbflächen. Textilähnliche Strukturen. Dann wieder wässrig-glasige, durchscheinende Flächen, mit betonten Rändern wie bei kunstvollen Verglasungen. Ein momentanes Geschehen, das wir erfassen wie in einem Schnitt, zweidimensional. Und wir beginnen, eigene Assoziationen, eigene Vorstellungsnetze zu knüpfen, dreidimensionale Bilder aufzubauen. Erst unsere Vorstellung macht sie für uns räumlich.
Es ist nicht die Sonne, die Licht in diese Träume bringt, keine naturalistischen Licht- und Schattenverhältnisse. Licht fällt nach Gutdünken der Malerin in die Szenen der Bilder. Träume, Trauminhalte leuchten auf. Oder ist es nicht vielmehr so, dass diese Träume ihr eigenes Licht aussenden, fluoreszieren.
In Erika Seywalds Farblandschaften mit kartografischem Charakter zeichnen sich die Feinstrukturen unserer Grenzen ab. Wie auf einer Landkarte die Binnenseen, liegen in ihren Bildern die Augen in den Gesichtsebenen, in den Gesichtsfeldern. Wie die Grenzen ganzer Länder fügen sich die Konturen dieser Gesichter und Körper in die Landmassen imaginärer Kontinente. „Was ist die Seele” – und ich zitiere hier noch einmal Jean-Luc Nancy – „Was ist die Seele, wenn nicht die Erfahrung des Körpers, nicht als eine Erfahrung unter anderen, sondern als die einzige Erfahrung.” Oder ist es das Unabsehbare, das Unsichtbare, das Uneinsehbare im Anderen und in uns selber – macht das eigentlich unsere Seele aus? An kleinen Dämmen gerinnen die Zufälle. Seen, Sümpfe und Tümpel entstehen, Klippen und Riffe ragen auf, Felsen und Bergrücken werden überlagert von Schwärmen von Farbtupfern. Die Ausläufer der Farbgebirge enden in Farbseen. So entstehen wahre Farbküsten-Landschaften. Aufgewühltes Farbenmeer. Landkarten werden zu Landschaften. Nahsicht kippt in Fernblick. Berge und Täler, wie sie sich zwischen uns befinden, kommen zur Darstellung, das Irdische über uns, und der Himmel unter uns.
Dr.phil. Blanka Schmidt-Felber
Wien, im August 2012
Zitate aus: Jean-Luc NANCY, Corpus, (aus dem Französischen von Nils Hodyas und Timo Obergöker), diaphanes, Zürich/Berlin 2007 (Paris 2000), S. 103 – 104 und S. 124